Catherine André, FSD Stiftungsrätin
Bericht eines Besuchs in der Ukraine mit der Fondation Suisse de Déminage (FSD)
Im Mai 2025 begleitete die neu ernannte FSD-Stiftungsrätin Catherine André den Vizepräsidenten Thierry Burkart und den FSD-Direktor Hansjörg Eberle auf einer Reise in die Ukraine. Für Catherine bot sich dabei die Gelegenheit, sich vor Ort ein Bild von den humanitären Minenräumaktionen der FSD sowie den Auswirkungen von Landminen und Blindgängern auf das tägliche Leben der betroffenen Gemeinschaften zu machen.
Wenn man sich für eine humanitäre Organisation wie die FSD engagiert, gehört es dazu, dorthin zu gehen, wo Hilfe am dringendsten gebraucht wird – auch in unsichere Gebiete. Ob als Experte, Projektleiterin oder als Mitglied des Stiftungsrats: Es geht darum, zuzuhören, zu unterstützen, zu danken – und auch, um gegenüber Spenderinnen und Spendern sicherzustellen, dass ihre Beiträge genau dort ankommen, wo sie gebraucht werden.
Nach sorgfältiger Beobachtung der Sicherheitslage bis zur letzten Minute trafen wir die Entscheidung, die Reise trotz der angespannten Lage vor Ort anzutreten.
9. Mai – Ankunft im Schatten des Krieges

Wir reisten von Zürich nach Warschau mit dem Flieger – und von dort weiter im Nachtzug Richtung Kiew.
Die Waggons alt, die Betten schmal, das Rattern wie aus einer anderen Zeit. 15 Stunden Rüttelei später beginnt das Abenteuer. Dazwischen: kaltes Abendessen, versprengte Vokabeln Ukrainisch, Sorgen über die Fahrt, der Grenzübertritt – erst Polen, dann Ukraine.
Die Umrüstung der Radsätze von Schmal- auf Breitspur (eine Besonderheit der postsowjetischen Bahn-Infrastruktur) dauert gefühlt ewig.
Und dann: Zollkontrollen, Licht, Geräusche, Herzklopfen. Der Schlaf ist flüchtig, die Gedanken nicht.
10. Mai – Kiew: Erste Eindrücke & erste Sirenen
Ankunft am frühen Morgen in Kiew. Der Kopf brummt, der Körper sehnt sich nach Ruhe. Doch dafür bleibt keine Zeit. Ein schnelles Ankommen im Hotel, eine Dusche – und weiter geht’s.
Nach dem ersten gemeinsamen Mittagessen folgt das Security Briefing mit der Schweizer Botschaft. Thema des Tages: Kann die geplante Reise nach Kharkiv wirklich stattfinden?
Später im Hotel: der erste Luftalarm. Eine sanfte Stimme aus der Warn-App fordert dazu auf, in den Shelter zu gehen. Erinnerungen an meine Zeit in Afghanistan kommen hoch. Ich ziehe die bereitgelegten Kleider an, prüfe die Warnmeldungen, lausche in die Nacht. Keine Einschläge. Ich bleibe auf dem kleinen Sofa – bereit, aber ruhig.
11. Mai – Gespräche, Realität, Respekt
Erst um 10 Uhr startet der nächste Tag – eine willkommene Atempause. Gespräche mit Ministeriumsvertretern stehen an. Es geht um Bedarfe, Koordination, und den gemeinsamen Willen, Lösungen zu finden.
Eine kurze Stadtrundfahrt zeigt ein erstaunlich ruhiges, aufgeräumtes Kiew. Trotz drei Jahren Krieg bemüht sich die Bevölkerung um Normalität. Der Lärm der Drohnenalarme gehört längst zum Alltag.

Am Nachmittag dann die Entscheidung: Wir fahren noch heute Abend nach Kharkiv – per Nachtzug, sieben Stunden Fahrt Richtung Osten, näher an die Front.
12. Mai – Kharkiv: Eine Stadt, gezeichnet von Krieg
Einst ein Industrie- und Bildungszentrum mit 1,5 Millionen Einwohnern, heute durch Raketenangriffe und ständige Bedrohung schwer beschädigt. Die Stadt liegt nur rund 30 Kilometer von der russischen Grenze entfernt – und ist damit ständig im Visier.
Wir werden direkt zum Feldeinsatz gebracht. Regen macht das Räumen von Minen zu gefährlich – der Boden ist zu schlammig. Wir nutzen die Zeit für ein Sicherheitsbriefing und intensive Gespräche mit dem Team.
Die Menschen, die hier arbeiten, sind so unterschiedlich wie bewundernswert: Eine ehemalige Lehrerin räumt Minen, damit Kinder wieder spielen können. Ein Mechaniker, der einfach helfen will. Ein Marketingspezialist, der seinen Dienst als Bürgerpflicht sieht. Zwischen den Zeilen: Zorn auf Russland, Schmerz, Hoffnung – und der tiefe Wunsch nach Frieden.
Ein weiteres Highlight: Die Minenhunde mit Führern, welche auf dem FSD
Trainingsgelände trainiert werden und hoffentlich bald in den Einsatz dürfen. Es gibt noch ein paar Ukrainische administrative Herausforderungen, welche wir am Vortag mit dem Ministerium ansprechen konnten.
Am Abend geht es zurück – aus Sicherheitsgründen. Kharkiv wird fast täglich bombardiert. Im Zug verarbeiten wir das Gesehene. Und erneut: Respekt vor unserem Team, das unter schwierigsten Bedingungen Höchstleistung bringt.

13. Mai – Rückkehr, Gespräche, Perspektiven
Zurück in Kiew, kurz duschen, dann weiter ins Wirtschaftsministerium. Hauptthema: Wie können wir Agrarland schneller und sicher entminen, damit die Bevölkerung sich wieder selbst versorgen kann? Die enge, vertrauensvolle Beziehung zwischen dem Ministerium und der FSD zahlt sich aus – wir diskutieren offen, suchen gemeinsam nach Lösungen.
Später: Besuch des FSD-Hauptquartiers, Austausch mit den Mitarbeitenden, Reflexion über Projekte, Zukunftsplanung – auch in Zeiten schrumpfender Spenden.
14. Mai – Chernihiv: Hoffnung im Trümmerfeld
Chernihiv – eine der ältesten Städte der Ukraine, schwer getroffen in den ersten Kriegsmonaten. Die Stadt wurde 2022 wochenlang belagert und von russischen Streitkräften eingekesselt. Heute ist sie Symbol für Widerstand und Wiederaufbau.
Streitkräften eingekesselt. Heute ist sie Symbol für Widerstand und Wiederaufbau. Unser Tag ist voll:
• Sicherheitsunterweisung
• Projekt-Updates
• Teilnahme an einer Schulung zur Identifizierung von Blindgängern („Sapper-Kurs“)
• Besuch einer EORE-Sitzung (Explosive Ordnance Risk Education) mit Grundschulkindern

Ein Moment bleibt besonders: Besuch im Kindergarten – jetzt wieder geöffnet, nachdem die FSD das Gelände entmint hat. Die Schulleiterin Olena ist eine Heldin: Beim Angriff rettete sie Kinder, organisierte im Untergrund einen provisorischen Unterrichtsraum. Ihr Mann versuchte mit blossen Händen Glassplitter zu entfernen.
Fünf Kinder überlebten den Angriff nicht. Ihre Trauer steht in ihren Augen. Wir sehen uns an – Worte sind überflüssig.
Die Schulung der Kinder durch drei hochmotivierte FSD-Mitarbeitende ist beeindruckend: Methodisch durchdacht, kindergerecht, mit Leidenschaft vermittelt. Ich wünsche mir, jede Schule in der Schweiz könnte so etwas sehen. Nicht als Schock – sondern als Augenöffner.
Kinder sollten keine Blindgänger erkennen müssen.
Und doch tun sie es hier.

Vorwärts durch Professionalität
Wir besuchen weitere Projekte:
• Vorführungen mit Drohnen zur Minenaufklärung
• Analyse von Einschlagskratern: Vorführung mit Aufklärungsdrohnen, mit denen die FSD die verbombten Gebiete zuerst analysiert und ich bin erstaunt, wie viel man auf den Aufnahmen sehen kann. Die FSD ist daran, die neusten Methoden und Techniken zu erforschen und für die Entminung einzusetzen. Die grossen Krater der Einschläge können so schon gekennzeichnet werden, das hilft dem Risk Team bei der Analyse der vorhandenen Verseuchung und dem Minenräumungsteam, gezielter zu entminen.
• Besuch im Dorf Yahidne, das 2022 durch russische Truppen besetzt wurde. Über 300 Dorfbewohner, darunter Kinder, wurden wochenlang in einem Keller gefangen gehalten.
Heute arbeiten FSD-Teams hier wieder mit Hochdruck: Rapid BAC (Battle Area Clearance), Markierungssysteme, Minenspürhunde – jedes Element zählt.
15. Mai – Heimweg & Herzgepäck
Am Abend geht es zurück – per Zug nach Warschau, dann Richtung Schweiz. Zeit zum Durchatmen, Nachdenken, Verarbeiten. Der Körper ist müde, aber das Herz ist voll.
Fazit: Was bleibt
Diese Reise war keine gewöhnliche Mission. Sie war eine Erinnerung. Eine Mahnung. Eine Bestärkung.
Ich bin stolz, Teil der FSD zu sein – nicht nur wegen unserer Arbeit in der Ukraine, sondern weil wir dort sind, wo Hilfe gebraucht wird. Weil wir zuhören. Weil wir handeln. Und weil wir zeigen: Jeder kann etwas tun.
• Ob durch Spenden, durch Teilen von Wissen oder einfach durch menschliches Miteinander.
• Frieden beginnt nicht am Verhandlungstisch, sondern in unserem Alltag.
• Wir haben nur ein Leben. Und nur eine Erde.
Lasst uns für unsere Kinder – und für uns selbst – ein Stück friedlicher, verständnisvoller und bescheidener werden.
Catherine André